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Multiple-Choice-Prüfungen rechtswidrig
Kölner Fach-Anwalt erwirkt Urteile in NRW und Sachsen – besonders betroffene Studiengänge: Medizin und Wirtschaft im Grundstudium |
Kommentar
Es fängt bei der theoretischen Führerscheinprüfung an und setzt sich bei Prüfungen in Hochschulen fort: Probleme mit Multiple-Choice-Fragen. Schüler versuchen mit ihnen vielleicht noch ohne besonderen Lernaufwand zu einer guten Note zu kommen. Für Studenten hängt am richtigen oder falsch gesetzten Kreuz, ohne Chance zur Kommentierung, unter Umständen sogar die berufliche Zukunft ab. Wünschenswert sind Multiple-Choice-Prüfungen bei der Kontrolle nackten Faktenwissens. Komplexere Zusammenhänge verdienen ein oder zwei Sätze der Erklärung. Auch das soll schliesslich an einer Hochschule gelehrt/gelernt werden.
Multiple-Choice – im Rechtsjargon auch "Antwort-Wahl-Verfahren"
genannt – war als Prüfungsmethode schon immer umstritten. Ursprünglich aus den USA
als Antidiskriminierungsmaßnahme importiert, beschäftigt das Verfahren immer wieder
deutsche Gerichte, weil sich Prüflinge durch das Prinzip des Ankreuzens ungerecht
behandelt fühlen. Nun hat der Kölner Rechtsanwalt Dr. Christian Birnbaum, ein Spezialist
für Ausbildungs- und Prüfungsrecht, ein Grundsatz-Urteil vom Oberverwaltungsgericht
(OVG) in Münster erwirkt: Demnach ist ein Großteil der in Hochschulen und
anderen Prüfungsgremien – so auch beispielsweise beim Theorietest für den
Führerschein – angewendeten Multiple-Choice-Prüfungen rechtswidrig. Weil ein BWLStudent
aus Köln sein Studium hätte aufgeben müssen, hatte er gegen das Nicht-
Bestehen einer Vordiplom-Prüfung geklagt. Aufgrund des OVG-Urteils darf er seine
Prüfung jetzt wiederholen.
Die neuen Regelungen sind noch nicht bundesweit gültig. Das OVG Münster gilt
allerdings als eines der einflussreichsten Gerichte in Deutschland. Daher ist davon
auszugehen, dass neben NRW auch weitere Bundesländer nachziehen werden. In
Sachsen konnte Dr. Birnbaum bereits im Jahr 2002 einen ähnlichen Beschluss erwirken.
Für Studenten und viele andere Prüflinge bedeutet das Urteil aber vor allem Folgendes:
Viele der Multiple-Choice-Prüfungen im Grundstudium, Vordiplom oder der Vorklinik und
vor allem in Medizin, Biologie, BWL und vielen anderen Fachrichtungen sind nicht
rechtsgültig und können angefochten werden.
Das OVG Münster begründet seine Entscheidung folgendermaßen: "Für die Beurteilung
von Erfolg oder Misserfolg genügt nicht die Bestimmung einer absoluten Bestehensgrenze.
Erforderlich ist auch die Bestehensgrenze im Verhältnis zu einer für möglich
erachteten Höchstleistung oder einer Normalleistung."
Was das bedeutet, erklärt Rechtsanwalt Birnbaum: "Bis zum Jahr 1989 mussten die
Prüflinge "absolut" 60% der Multiple-Choice-Aufgaben richtig beantworten, um zu
bestehen. Dies führte zu erheblichen Schwankungen in den Prüfungsergebnissen. In
einem Prüfungsjahrgang, der als das "Katastrophen-Physikum" Uni-Geschichte schrieb,
fielen anstatt der üblichen 20-25 Prozent plötzlich 56 Prozent der Prüflinge durch.
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Daraufhin beschloss das Bundesverfassungsgericht eine "relative" Bestehensgrenze
rechtlich vorzugeben, d.h. der Prüfling wurde zusätzlich im Verhältnis zu seinen
Mitstreitern beurteilt. Als Prüfling in einem schlechteren Jahrgang bekommt man entsprechend bessere Noten als bei einem guten. Heute gelten Multiple-Choice-Prüfungen als rechtswidrig, bei denen die "relative" Beurteilung nicht in der Prüfungsordnung verankert ist. Jede Universität sollte also eine entsprechende Klausel in ihre
Prüfungsordnung einfügen."
Ein weiteres Argument des OVG gegen das Antwort-Wahl-Verfahren lautet: "Der Prüfling
hatte keine Möglichkeit, die von ihm gewählte Antwort zu begründen und so zusätzliche
Grundlagen für die Bewertung seiner Prüfungsleistung durch die Prüfer zu schaffen.
Nach Abschluss der Prüfung findet nur noch eine rechnerische Auswertung statt, die
keinen Raum für eine wertende Beurteilung lässt."
Dazu Rechtsanwalt Birnbaum: "Die Multiple-Choice-Methode hat den Vorteil, dass
aufgrund der fest vorgegeben Antwortmöglichkeiten die Korrektur extrem einfach und
somit kostengünstig ist – beispielsweise reicht es, einfach eine Schablone auf den
Fragebogen zu legen. Der große Nachteil: Dadurch ist der Prüfling eingeschränkt in der
Beantwortung der Fragen. Vor allem bei sehr komplexen Themen ist das problematisch.
Manchmal gibt es auf eine Frage eben mehr Antwortmöglichkeiten als vom Prüfer
berücksichtigt. Wenn eine Frage als "offene" Frage gestellt wird, also die Möglichkeit
vorgegebener Antwortmöglichkeiten nicht begrenzt wird, kann der Prüfling die Frage so
beantworten, wie er es für richtig hält und die gesamte Bandbreite seines Wissens
einfließen lassen. Beim Antwort-Wahl-Verfahren gelten hingegen nur die vorgegebenen
Antworten. Und das moniert das OVG-Urteil."
Natürlich kann auch in Zukunft nicht vollkommen auf Multiple-Choice-Verfahren verzichtet
werden. Denn in vielen Studiengängen würde eine Auswertung individuell beantworteter
Fragen einen immensen Arbeits- und Zeitaufwand bedeuten. Was aber für die Zukunft
gilt: Universitäten müssen den Einsatz von Multiple-Choice-Prüfungen überdenken und
ihre Prüfungsordnungen entsprechend überarbeiten. Bis dahin besteht für viele
Studenten die Möglichkeit, sich gegen das Verfahren zu wehren.
Quelle
26.10.2006, Rechtsanwälte Birnbaum, www.birnbaum.de
Tags
Antwort-Wahl-Verfahren Hochschule Hochschulrecht Multiple-Choice Prüfung Prüfungen Prüfungsordnung
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